Koller
Annika Büsing
Steidl Verlag
2023
“Und ein leises Staunen. Darüber, dass in den tiefen Lücken, die das Leben reißt, warme Dankbarkeit nisten kann.”
Diese beiden Sätze von der letzten Buchseite von Theres Essmanns Roman Dünnes Eis zeigen dessen Tiefgang und Thema: Es ist ein Werk, das sich zwischen Trauma und Heilung bewegt und mit feinfühliger Präzision die Brüchigkeit menschlicher Existenz offenlegt.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht Marietta, eine 99-jährige Frau, die in einer Seniorenresidenz lebt und alle ihre Lieben überlebt hat. Kurz vor ihrem 100. Geburtstag wird sie von einer inneren Unruhe erfasst, was mit den Geschehnissen in ihrer Umgebung zu tun hat. In das Zimmer ihrer verstorbenen Heimnachbarin und Freundin Gisela ist Herr Tacke eingezogen, ein grantiger Mensch, den alle für einen alten Nazi halten. Und in der Containerunterkunft für Flüchtlinge nebenan lebt ein kleiner Junge, der sie an ihren Sohn Johann erinnert, der im gleichen Alter auf der Flucht aus Königsberg erschossen wurde. Marietta hat sich selbst die Schuld an seinem Tod gegeben und dieses Trauma jahrzehntelang verdrängt.
Die Begegnungen mit dem syrischen Jungen Enis und Herrn Tacke werden zum emotionalen Katalysator, der Marietta zwingt, sich dem schmerzhaftesten Ereignis ihres Lebens zuzuwenden. Ihre große Hilfe dabei sind das Schreiben und die Literatur. Hier integriert die Autorin auf wunderbare Weise ihre Erfahrung als Biblio- und Poesietherapeutin.
Besonders am Roman Dünnes Eis ist seine stille Intensität. Die Sprache ist reduziert, aber poetisch, die Handlung ruhig, aber emotional aufwühlend. Man möchte es langsam lesen, um die Sprache auszukosten.
Dünnes Eis ist ein Roman, der nachhallt und mutig stimmt, dass es nie zu spät ist, sich Unverarbeitetem zu stellen, um Heilung zu finden. Ich möchte dieses Buch allen empfehlen, die sich für die Aufarbeitung von (Kriegs)Traumata und die Kraft des Schreibens und der Literatur interessieren.
Koller
Annika Büsing
Steidl Verlag
2023
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2023